Geschrieben von:Chris May
Veröffentlicht am:1. Juni 2018
Einst von Puristen verhöhnt und seitdem ins Abseits gedrängt, wird Jazz-Fusion von einer neuen Generation von Spielern wiederentdeckt und rehabilitiert, darunter Kamaal Williams, Joe Armon-Jones und Tenderlonious. Chris May stellt 20 unverzichtbare Alben aus der Blütezeit der Musik in den späten 1960er und 1970er Jahren vor.
Als erkennbare musikalische Bewegung begann Fusion um 1969, dem Jahr, in dem Miles Davis‘ In A Silent Way veröffentlicht wurde, und verursachte eine ebenso tiefe Kluft in der Welt des Jazz wie die von Ornette Coleman und Albert Ayler zu Beginn des Jahrzehnts. Andeutungen dieses Stils gab es schon vorher. Larry Coryell fügte 1966 dem Stück The Dealer des Schlagzeugers Chico Hamilton das hinzu, was man später als Fusion-Gitarre bezeichnen würde. Etwa zur gleichen Zeit stieß der Pianist und Komponist/Arrangeur Joe Zawinul den Saxophonisten Cannonball Adderley in Richtung Fusion. Aber der Wendepunkt war Davis‘ Album und die gleichzeitige weit verbreitete Einführung von E-Bass und Keyboards durch eine Generation von stilistisch nach außen gerichteten Spielern, die in der lila Periode der Rockmusik Mitte der 1960er Jahre aufgewachsen waren.
Zawinul wurde später zu einem prägenden Einfluss auf die Fusion, sowohl als Mitglied der Band In A Silent Way als auch als Leiter von Weather Report. Mehrere andere Davis-Bandmitglieder der späten 1960er/frühen 1970er Jahre leiteten ebenfalls einflussreiche Fusion-Bands, insbesondere der Schlagzeuger Tony Williams mit Lifetime, der Gitarrist John McLaughlin mit dem Mahavishnu Orchestra und die Keyboarder Chick Corea und Herbie Hancock mit Return To Forever bzw. Mwandishi/Headhunters.
Das waren ernstzunehmende Musiker, die sich der Fusion mit einer experimentellen Einstellung näherten. Aber das kritische Gewicht des zeitgenössischen Jazz-Establishments – das die Elektrifizierung verabscheute und sogar solche Meisterwerke wie In A Silent Way ablehnte – führte dazu, dass Fusion unterschätzt wurde. Erst jetzt beginnt man, sie neu zu bewerten.
Hier sind 20 essentielle Alben aus den goldenen Jahren der Fusion…
Miles Davis
In A Silent Way
(CBS LP, 1969)
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Das erste vollwertige Fusion-Album und zusammen mit seinem Nachfolger Bitches Brew von 1970 der frühe Wegweiser des Genres. In A Silent Way ist introspektiv und zurückhaltend, Bitches Brew ist extrovertiert und rau, aber beide sind eher Fusionen mit Rock als mit Funk. Funk-orientierte Fusion folgte ein paar Jahre später. Die Alben kündigten auch die Ankunft des Produzenten/Engineers im Jazz als de facto Bandmitglied an. Beide wurden von Teo Macero produziert, der mit seinen massiven Eingriffen beim Editieren und Remixen den im Grunde rohen und diskursiven Jams eine Form verlieh.
The Tony Williams Lifetime
Emergency!
(Polydor 2xLP, 1969)
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Tony Williams kam 1963 im bemerkenswert jungen Alter von 17 Jahren zu Miles Davis. Er verließ ihn gleich nach den Aufnahmen zu In A Silent Way, um sich auf das Power-Trio Lifetime mit John McLaughlin und dem Organisten Larry Young zu konzentrieren. Das furiose Debüt der Gruppe, Emergency! – das Ausrufezeichen ist völlig gerechtfertigt – ist eines der wenigen Fusion-Alben, das an die Intensität von Bitches Brew heranreicht. Ein weiteres ist…
The Mahavishnu Orchestra
The Inner Mounting Flame
(CBS LP, 1971)
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…The Inner Mounting Flame, auf dem McLaughlin das Gitarrengeschredder in noch virtuosere Höhen treibt. Energiegeladene Unterstützung kommt von Keyboarder Jan Hammer, Geiger Jerry Goodman, Bassist Rick Laird und Schlagzeuger Billy Cobham. Birds Of Fire, das einzige andere Studioalbum der Originalbesetzung des Mahavishnu Orchestra, folgt mit Flame knapp dahinter.
Joe Zawinul
Zawinul
(Atlantic LP, 1971)
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Joe Zawinul war wohl der größte Klangalchemist der Fusion, und als die Technologie begann, seine Vorstellungskraft einzuholen – etwa zur Zeit des 1974er Albums Mysterious Traveller von Weather Report – schuf er Klanglandschaften, die in der analogen Ära unübertroffen waren. Zawinul, zu dem auch die Weather Report-Gründungsmitglieder Saxofonist Wayne Shorter und Bassist Miroslav Vitous gehören, entwarf die Blaupause für die neue Band. Zu den Tracks gehört eine wunderschöne Neuinterpretation von Zawinuls „In A Silent Way“.
Herbie Hancock
Crossings
(Warner Bros LP, 1972)
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Ein Mitglied von Miles Davis‘ akustischem Quintett von 1963 bis 1968, schloss sich Herbie Hancock später Davis als elektrischer Keyboarder an und leistete wichtige Beiträge zu dessen Fusion-Alben Jack Johnson, Live-Evil und On The Corner aus den frühen 1970er Jahren. Hancock leitete gleichzeitig die atemberaubend innovativen Mwandishi, die Vorläufer der Headhunters (deren Debütalbum Head Hunters von 1973 ebenfalls ein Muss ist). Crossings war das zweite Album von Mwandishi, auf dem Hancocks Fender Rhodes und Mellotron zusammen mit den Saxophonen und Klarinetten des Headhunters-Gründungsmitglieds Bennie Maupin zu hören sind.
Frank Zappa & The Mothers
The Grand Wazoo
(Bizarre LP, 1972)
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Ein übersehenes Meisterwerk. The Grand Wazoo ist der Höhepunkt einer Reihe von zunehmend jazzbeeinflussten Alben, beginnend mit Hot Rats, das Frank Zappa nach der Auflösung der ursprünglichen Mothers of Invention aufnahm. Als Gitarrist, der technisch so versiert ist wie John McLaughlin, leitet Zappa eine Band, zu der auch der spätere Fusion-Megastar, der Keyboarder George Duke, gehört.
Alphonze Mouzon
The Essence Of Mystery
(Blue Note LP, 1973)
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Als Gründungsmitglied von Weather Report waren die eigenen Alben des Schlagzeugers Alphonze Mouzon eher funk- als rockorientiert. Sie enthielten auch afrofuturistischen Jazz, wie auf dem Titeltrack hier. (Sartorisch gesehen könnte Mouzon genauso fröhlich außerirdisch sein wie der Afrofuturismus-Pionier Sun Ra). Eines der geradlinigsten Groove-Alben der frühen Fusion-Ära.
Billy Cobham
Spectrum
(Atlantic LP, 1973)
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Abgesehen von Billy Cobham selbst ist der wichtigste Musiker auf seinem Debüt als Leader sein Mahavishnu Orchestra-Bandkollege Jan Hammer am Fender Rhodes und Moog. Das Duo wird bei einigen Stücken durch den Gitarristen Tommy Bolin ergänzt, der auf dem Weg zu Deep Purple ist und eine kraftvolle Rockstimme beisteuert. Ein Hochdezibel-Spaß.
Carlos Santana & Mahavishnu John McLaughlin
Love Devotion Surrender
(CBS LP, 1973)
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Billy Cobham und Jan Hammer arbeiten mit John McLaughlin auf dieser Hommage an John Coltrane zusammen. Zu den Stücken gehören der erste Teil von Coltranes „A Love Supreme“, bei dem McLaughlin und Carlos Santana ekstatische Licks auf der E-Gitarre austauschen, und Coltranes Ballade „Naima“, bei der sie zu akustischen Klängen spielen und damit einen ebenso erbaulichen Effekt erzielen. Von einigen als gottesfürchtig verurteilt (es wurde McLaughlin und Santanas Guru Sri Chinmoy gewidmet), ist das Album musikalisch ein ungetrübter Genuss.
Weather Report
Mysterious Traveller
(CBS LP, 1974)
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‚Birdland‘ von Heavy Weather aus dem Jahr 1977 ist vielleicht das bekannteste Stück von Weather Report, aber Mysterious Traveller ist ihr erhabenstes Album. Von der euphorischen Hingabe, die Joe Zawinuls ‚Nubian Sundance‘ vermittelt, bis hin zum sanften Balsam von Wayne Shorters ‚Blackthorn Rose‘ ist jedes Stück ein Kleinod, das die Balance zwischen kollektiver Improvisation im richtigen Moment und präziser Nachbearbeitung hält.
Larry Coryell
Introducing The Eleventh House With Larry Coryell
(Vanguard LP, 1974)
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Larry Coryell prägte 1970 die Fusion mit den meditativen Spaces und leitete eine Band mit John McLaughlin und Chick Corea. 1973 gründete er zusammen mit dem Keyboarder und Jugendfreund Mike Mandel das heftigere, aber immer noch lyrische Eleventh House. Coryell war ein ebenso einzigartiger Komponist wie ein Gitarrenvirtuose, und Introducing ist das erste von mehreren herausragenden Eleventh House-Alben.
Donald Byrd
Places And Spaces
(Blue Note LP, 1975)
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Im Jahr 1975 stand das einst mächtige Blue Note Label kurz vor dem Zusammenbruch, da es von der fast vollständigen kommerziellen Eroberung des Jazz durch Rock und Funk gebeutelt wurde. Fusion war eine vorübergehende Rettung. Angesichts der Verbundenheit von Blue Note mit dem Soul-Jazz überrascht es nicht, dass das Label eher eine Fusion mit Funk als mit Rock bevorzugte. Places And Spaces war eines von mehreren Alben des Trompeters Donald Byrd, die von den Motown-Songwritern Larry und Fonce Mizell produziert wurden. Jedes dieser Alben ist eine fesselnde Mischung aus glatten Funk-Rhythmen, die von Bassist Chuck Rainey und Schlagzeuger Harvey Mason beigesteuert werden, und jazzigen Toplines.
Bobbi Humphrey
Blacks And Blues
(Blue Note LP, 1975)
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Die ersten beiden Alben der Flötistin Bobbi Humphey, die vom Hard-Bop-Trompeter Lee Morgan an Blue Note empfohlen wurde, waren angenehm, aber nicht außergewöhnlich. Für Blacks And Blues holte sie die Mizell-Brüder an Bord, die ihrerseits Chuck Rainey und Harvey Mason beisteuerten, und, hey presto, stieß auf eine mutigere Lode. Verpassen Sie nicht ‚Chicago, Damn‘.
Bobby Hutcherson
Linger Lane
(Blue Note LP, 1976)
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Vibraphonist Bobby Hutcherson’s Linger Lane war eine weitere Platte, die von der Präsenz von Chuck Rainey und Harvey Mason profitierte. Produziert wurde es allerdings nicht von den Mizell-Brüdern, sondern von Keg Johnson, Jerry Peters und Jim Shifflett, dem Team, das auch andere Blue-Note-Fusion-Künstler wie den Keyboarder Gene Harris erfolgreich produzierte. Das üppige, sinnliche Album enthält eine Coverversion des Stylistics-Hits „People Make The World Go Around“.
Lonnie Liston Smith & The Cosmic Echoes
Expansions
(Flying Dutchman LP, 1975)
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Was vielleicht das definitive Jazz/Funk-Fusion-Album ist, erschien nicht bei Blue Note, sondern bei Flying Dutchman, dem Label, das der Produzent Bob Thiele gründete, als er Impulse! verließ. Der Keyboarder Lonnie Liston Smith war ebenfalls ein Ehemaliger von Impulse! und hatte mit dem Spiritual-Jazz-Meister Pharoah Sanders für das Label aufgenommen. Liebenswürdig, melodisch und funky.
Eddie Henderson
Sunburst
(Blue Note LP, 1975)
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Der Trompeter Eddie Henderson hatte seinen Durchbruch 1972 in Herbie Hancocks Post-Mwandishi, Pre-Headhunters Band, auf dem Album Sextant. Hendersons Blue-Note-Debüt Sunburst enthält zwei Musiker von Head Hunters, Bennie Maupin und den allgegenwärtigen Harvey Mason, und liefert ähnlich ansteckende, groovige Fusion.
Return To Forever
Romantic Warrior
(CBS LP, 1976)
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Nach In A Silent Way und Bitches Brew verließ Chick Corea Miles Davis und gründete die Free-Improvisationsband Circle. Im Jahr 1972, als er kürzlich zu Scientology konvertierte und den Glauben an ein größeres Publikum verbreiten wollte, gründete er mit dem Bassisten Stanley Clarke die Band Return To Forever. Die Fans liebten die technische Virtuosität der Band, Kritiker meinten, sie stünde dem gefühlvollen Ausdruck im Wege. Romantic Warrior war das durchdachteste Album der Gruppe – aber das Urteil steht noch aus.
Jaco Pastorius
Jaco Pastorius
(Epic LP, 1976)
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Bassist Jaco Pastorius machte dieses Solo-Debüt kurz bevor er zu Weather Report stieß. Sein virtuoses Spiel auf dem bundlosen E-Bass sorgte in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre für Furore, und er war ebenso kreativ wie technisch herausragend. Leider wurde Pastorius während seiner sechs Jahre bei Weather Report schwer alkohol-, kokain- und barbituratabhängig. Er starb 1987 im Alter von 35 Jahren an den Folgen einer betrunkenen Schlägerei vor einer Bar. Dieses außergewöhnliche Album zeigt, wie tragisch dieser frühe Tod war.
Moacir Santos
Carnival Of Spirits
(Blue Note LP, 1976)
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Der wenig beachtete Komponist, Arrangeur und Saxophonist Moacir Santos war einer der Paten der modernen brasilianischen Musik. In den 1960er Jahren studierten Baden Powell und Wilson das Neves bei ihm, und er komponierte und arrangierte für Nara Leão, Sérgio Mendes und Roberto Menescal. Carnival Of Spirits wurde in Los Angeles aufgenommen und ist eine von Santos‘ wenigen Veröffentlichungen unter eigenem Namen, eine nahtlose Mischung aus Jazz und Samba, die von Harvey Mason getragen wird.
George Duke
A Brazilian Love Affair
(CBS LP, 1980)
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Da, wo Moacir Santos aufgehört hat, macht A Brazilian Love Affair weiter – ist es Fusion, überdrehte Exotica oder ein Vorhang für Weltmusik? Vielleicht ein bisschen von allen dreien. Das fünfzehnte Studioalbum von George Duke seit 1970 wurde in Rio de Janeiro aufgenommen und ist ein beeindruckendes Werk, auf dem die Sänger Flora Purim und Milton Nascimento sowie eine kleine Galaxie anderer brasilianischer Musiker zu hören sind, darunter der Perkussionist Airto Moreira, ein ehemaliger Teilnehmer an Miles Davis‘ Jack Johnson-Sessions von 1970. Und damit sind wir fast am Anfang…