Organische Chemie, oder Chemie der Kohlenstoffverbindungen

Nirgendwo lässt sich die Entwicklung der organischen Chemie besser veranschaulichen als in der Entwicklung dieser populären deutschen Abhandlung. Es erschien um 1880 als Begleitband zu einem bescheidenen Lehrbuch der anorganischen Chemie im Oktavformat, wurde rasch populär und erlebte zahlreiche Auflagen. Da der Inhalt mit jeder weiteren Auflage anschwoll, wurde es notwendig, das Buch zunächst in zwei Teile zu unterteilen und schließlich das Format zu ändern. Wie viele deutsche wissenschaftliche Bücher fand es bald einen amerikanischen Übersetzer und Verleger und hat inzwischen seine dritte amerikanische Auflage erreicht. Der vorliegende Band ist die erste englische Ausgabe, was sich vermutlich eher auf die Nationalität des Verlegers als auf die größere Reinheit der Sprache des letzten Übersetzers bezieht. Wie dem auch sei, Richters organische Chemie ist aus dem Bereich der Lehrbücher herausgetreten. Der theoretische Teil ist auf vergleichsweise wenigen Seiten am Anfang des Bandes zusammengefasst und von so skizzenhaftem und oberflächlichem Charakter, dass er für den Studenten wenig Wert besitzt. Dennoch ist das Thema, insbesondere auf der physikalischen Seite in Verbindung mit strukturellen Problemen, von wachsendem Interesse und Bedeutung. Dies ist ein Kardinalfehler. Andererseits ist das Buch so voll mit Fakten, dass es eine Art verkürzten „Beilstein“ darstellt. Es ist in Kapitel unterteilt, die die Namen einer großen Anzahl verwandter Verbindungen, einen Abriss über die Art ihrer Herstellung und eine Beschreibung ihrer wichtigsten physikalischen und chemischen Eigenschaften enthalten. Gelegentlich ist einer Verbindung oder einem Verfahren ein Eigenname beigefügt, manchmal auch eine Referenz. Nur selten findet sich ein englischer Name oder gar ein Name einer anderen Nationalität als der deutschen. Es gibt keinen Hinweis auf die moderne Methode zur Herstellung von Siliciumalkylverbindungen oder auf ihren Autor; keinen Hinweis auf den Entdecker von Oxalylchlorid, Keten und den zahlreichen Azoimiden, oder auf den Mechanismus der Bildung von Ameisensäure aus Glycerin und Oxalsäure, obwohl das Verfahren angegeben wird, oder auf die anormale Addition von Brom an Maleinsäure, die falsch beschrieben wird. Englische Namen werden, wie aus dem Vorwort hervorgeht, absichtlich weggelassen, und zwar aus dem bemerkenswerten Grund, dass „die Verweise auf die deutsche Literatur mit dem Ziel beibehalten wurden, dem Studenten die Vorteile der Herkunft des Buches zu erhalten; die englischen Verweise werden ihm ansonsten leicht zugänglich sein.“ Wenn die Referenzen nicht angegeben werden, nicht einmal die Namen der Autoren dieser grundlegenden Entdeckungen, ist es schwer zu sehen, wie sie „leicht erhältlich“ sein sollen. Zweifellos ist es von Vorteil, wenn der Ursprung des Buches als Anregung für den britischen Chemiker ständig vor Augen geführt wird; aber es ist zu hoffen, dass demnächst ein Lehrbuch – ein echtes Lehrbuch für Studenten der organischen Chemie – erscheint, das ihm einen klaren, kritischen und anregenden Überblick über die großen Probleme der organischen Chemie gibt, mit denen die Namen vieler angesehener englischer Chemiker verbunden sind. Dass der englische organische Chemiker den experimentellen Teil des Faches mit dem Ziel verfolgt hat, eher theoretische als praktische Probleme zu erhellen, lässt sich leicht durch die Tatsache erklären, dass seine Aktivitäten auf der industriellen Seite notwendigerweise beschränkt waren und er bis heute wenig Anreiz hatte, sich mit der Entdeckung neuer Klassen von kommerziell nützlichen Produkten zu beschäftigen.

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