Proteine

Lysozym war das erste Enzym, für das die Röntgenstruktur mit hoher Auflösung bestimmt wurde. Dies geschah 1965 durch David Phillips, der an der Royal Institution in London arbeitete. Phillips schlug daraufhin einen Mechanismus für die Wirkung von Lysozym vor, der hauptsächlich auf Strukturdaten beruhte. Der Phillips-Mechanismus wurde seitdem durch experimentelle Beweise bestätigt, wie wir später sehen werden.

Lysozym ist in den Zellen und Sekreten (einschließlich Tränen und Speichel) von Wirbeltieren weit verbreitet, und Hühnereiweiß ist besonders reich an diesem Enzym. Lysozym katalysiert die Hydrolyse der glycosidischen Bindungen, die N-Acetylmuraminsäure (NAM) und N-Acetylglucosamin (NAG) in den Polysacchariden der bakteriellen Zellwände verbinden. Auf diese Weise schädigt es die Integrität der Zellwand und wirkt so als bakteriozider Wirkstoff. Die NAM-NAG-Bindung ist in Abbildung 40 dargestellt, wobei der Ort der Spaltung durch Lysozym angegeben ist.

Abbildung 40 Teil der Polysaccharidkomponente von Bakterienzellwänden, die die abwechselnden N-Acetylmuraminsäure- (NAM) und N-Acetylglucosamin- (NAG) Reste zeigt. Dieses Polysaccharid ist ein Substrat für Lysozym, das die glykosidische Bindung an der angegebenen Stelle hydrolysiert. (Aus Gründen der Übersichtlichkeit und um eine lineare Darstellung des Moleküls zu ermöglichen, sind einige der Bindungen in Zick-Zack-Form dargestellt.)

Lysozym ist ein relativ kleines Enzym. Hühnereiweiß-Lysozym besteht aus einem einzigen Polypeptid von 129 Aminosäuren Länge (Abbildung 41) mit Mr 14 600. Aus Röntgenbeugungsdaten geht hervor, dass die Lysozymstruktur eine deutliche Spalte aufweist (Abbildung 42). Die aktive Stelle befindet sich in dieser Spalte. In der Aminosäuresequenz in Abbildung 41 und im raumfüllenden Modell von Lysozym in Abbildung 42 sind die Reste, die die Substratbindungstasche im gefalteten Protein auskleiden, hervorgehoben.

Abbildung 41 Die Aminosäuresequenz von Hühnereiweiß-Lysozym, wobei die Reste, die die Substratbindungstasche auskleiden, grau hervorgehoben sind. Asp 52 und Glu 35, Schlüsselreste im aktiven Zentrum, sind rot bzw. gelb hervorgehoben.

Abbildung 42 Ein raumfüllendes Modell von Hühnereiweiß-Lysozym, in dem Schlüsselreste hervorgehoben sind. Asp 52 ist rot; Glu 35 ist gelb; einige der Reste, die die Substratbindungstasche auskleiden, sind grau dargestellt.

Das aktive Zentrum von Lysozym ist eine lange Furche, die jeweils sechs Zucker der Polysaccharidkette aufnehmen kann. Nach der Bindung des Polysaccharids hydrolysiert das Enzym eine der glykosidischen Bindungen. Wenn die sechs Zucker in dem Polysaccharidabschnitt als A-F identifiziert werden, befindet sich die Spaltstelle zwischen D und E, wie in Abbildung 40 dargestellt. Die beiden Polysaccharidfragmente werden dann freigesetzt. In Abbildung 43 sind die Phasen dieser Reaktion dargestellt, die auch im Folgenden ausführlich beschrieben werden.

Abbildung 43 Der katalytische Mechanismus von Lysozym. Man beachte, dass nur die an der Katalyse beteiligten Schlüsselreste (Glu 35 und Asp 52) dargestellt sind. Die einzelnen Schritte sind im Text ausführlich beschrieben. (Basierend auf Phillips, 1966)

  1. Bei der Bindung an das Enzym nimmt das Substrat eine gespannte Konformation an. Der Rest D ist verzerrt (im Diagramm nicht dargestellt), um eine -CH2OH-Gruppe unterzubringen, die sonst ungünstig mit dem Enzym in Kontakt treten würde. Auf diese Weise zwingt das Enzym das Substrat, eine Konformation anzunehmen, die sich der des Übergangszustands annähert.

  2. Rest 35 des Enzyms ist Glutaminsäure (Glu 35) mit einem Proton, das es leicht auf das polare O-Atom der glykosidischen Bindung überträgt. Auf diese Weise wird die C-O-Bindung im Substrat gespalten (Abbildung 43a und b).

  3. Rest D des Polysaccharids hat nun eine positive Nettoladung; dieses Reaktionszwischenprodukt wird als Oxoniumion bezeichnet (Abbildung 43b). Das Enzym stabilisiert dieses Zwischenprodukt auf zweierlei Weise. Zum einen interagiert ein nahe gelegener Aspartatrest (Asp 52), der sich in der negativ geladenen Carboxylatform befindet, mit der positiven Ladung des Oxoniumions. Zweitens ermöglicht die Verzerrung des Rests D, dass die positive Ladung zwischen seinem C- und O-Atom geteilt wird. (Man beachte, dass diese Aufteilung der Ladung zwischen den Atomen als Resonanz bezeichnet wird, so wie die Aufteilung der Elektronen zwischen den Atomen der Peptidgruppe). Das Oxonium-Ionen-Zwischenprodukt ist also der Übergangszustand. Normalerweise wäre ein solches Zwischenprodukt sehr instabil und reaktiv. Asp 52 trägt zur Stabilisierung des Oxonium-Ions bei, reagiert aber nicht mit ihm. Das liegt daran, dass die reaktiven Gruppen mit einem Abstand von 3 Å zu weit voneinander entfernt sind.

  4. Das Enzym setzt nun den Rest E mit seinem angehängten Polysaccharid frei, wodurch ein Glycosyl-Enzym-Zwischenprodukt entsteht. Das Oxonium-Ion reagiert mit einem Wassermolekül aus der Lösungsmittelumgebung, extrahiert eine Hydroxylgruppe und reprotoniert Glu 35 (Abbildung 43c und d).

  5. Das Enzym setzt nun den Rest D mit dem daran gebundenen Polysaccharid frei und die Reaktion ist abgeschlossen.

  • Der katalytische Mechanismus von Lysozym beinhaltet sowohl eine allgemeine Säure- als auch eine allgemeine Basenkatalyse. Welche Reste sind daran beteiligt?

  • Glu 35 nimmt an der allgemeinen Säurekatalyse teil (spendet ein Proton) und Asp 52 nimmt an der allgemeinen Basenkatalyse teil (stabilisiert die positive Ladung des Oxonium-Ions).

Der oben skizzierte Phillips-Mechanismus für die Lysozym-Katalyse wird durch eine Reihe von experimentellen Beobachtungen gestützt. Insbesondere die Bedeutung von Glu 35 und Asp 52 für den Prozess wurde durch Experimente zur ortsgerichteten Mutagenese (SDM) bestätigt. Die SDM ist eine sehr leistungsfähige Technik zur Untersuchung der Rolle einzelner Aminosäurereste für die Funktion eines Proteins und wird in Abschnitt 7.2 näher erläutert. Bei der SDM wird die rekombinante DNA-Technologie eingesetzt, um den interessierenden Aminosäurerest selektiv durch eine andere Aminosäure mit kritisch anderen Eigenschaften zu ersetzen. Das resultierende Protein kann dann funktionell getestet werden, z. B. im Hinblick auf die Substratbindung oder die katalytische Aktivität. Als diese Technik bei Lysozym angewandt wurde, um Glu 35 durch einen Glutaminrest (Gln) zu ersetzen, konnte das resultierende Protein immer noch das Substrat binden (wenn auch weniger stark), aber es hatte keine katalytische Aktivität. Glu 35 ist also essentiell für die katalytische Aktivität von Lysozym. Als Asp 52 durch einen Asparaginrest (Asn) ersetzt wurde, hatte das mutierte Protein weniger als 5 % der katalytischen Aktivität von normalem (Wildtyp) Lysozym, obwohl die mutierte Form eine doppelt so hohe Affinität für das Substrat hatte. Daraus folgt, dass Asp 52 für die katalytische Aktivität von Lysozym wesentlich ist. Experimente mit chemischen Mitteln, die diese Reste kovalent veränderten, ohne die Röntgenstruktur wesentlich zu beeinflussen, bewiesen ebenfalls, dass sie für die katalytische Aktivität essentiell sind.

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