Othello

Wenn Jago Othello einen „schwarzen Mohren“ nennt oder Roderigo ihn „dicke Lippen“ und einen „alten schwarzen Bock“ nennt, klingen diese Zeilen wie rassistische Epitheta, aber moderne Vorstellungen von Rasse machen es uns schwer zu begreifen, was Othellos Schwarzsein im Kontext des Stücks wirklich bedeutet. Anders als heute brachten die Europäer der frühen Neuzeit die Hautfarbe nicht mit dem genetischen oder evolutionären Erbe in Verbindung; diese Konzepte setzten sich erst mit dem Aufkommen der modernen biologischen Wissenschaft durch. Auch die Vorstellung von rassischer Überlegenheit setzte sich erst mit dem Aufkommen von Kolonialismus und Sklaverei durch. Obwohl die frühe moderne europäische Kultur ein Vorurteil über die Hautfarbe pflegte, stammte dieses Vorurteil aus zwei sehr unterschiedlichen Quellen. Die erste war die mittelalterliche Klimatheorie, die dunkle Haut mit Sonneneinstrahlung in Verbindung brachte und das heiße Klima des mediterranen Nordafrikas mit Schwarzsein in Verbindung brachte. Die zweite Quelle der frühneuzeitlichen Farbvorurteile stammt aus der christlichen Mythologie, in der erzählt wird, wie Gott Noahs Sohn Ham dazu verfluchte, „schwarz und abscheulich“ zu sein. Nach dieser Erzählung bevölkerte Hams Linie später die Länder Afrikas. Vermutlich bezieht sich die Schwärze von Hams Abstammung auf die Hautfarbe, aber die Hauptfunktion dieser Schwärze in der Geschichte ist metaphorisch, d. h. sie dient als bleibendes Zeichen von Hams Sünde.

Othellos „Schwärze“ bezieht sich zwar auf seine Hautfarbe, aber ihre Hauptfunktion in dem Stück ist symbolisch. Einige Theaterbesucher, die sich das Stück zu Shakespeares Zeiten ansahen, hätten gewusst, dass Mauren aus Nordafrika stammen, aber nur wenige, wenn überhaupt, wären tatsächlich auf solche Menschen gestoßen. Othello selbst wäre von einem Schauspieler gespielt worden, der seine Haut mit Ruß oder Kohle dunkel gefärbt hatte, eine übliche Technik, um die maurischen oder türkischen Wurzeln einer Figur anzudeuten. Das Publikum hätte aber auch verstanden, dass Othellos dunkle Haut ein Symbol für seine dunkle oder böse Natur war. In ähnlicher Weise wurde Aaron in Shakespeares Titus Andronicus von einem Schauspieler mit dunklem Gesicht gespielt, was sowohl auf seine maurische Herkunft als auch auf sein böses Wesen hindeutete. Auf das frühneuzeitliche Publikum hätte Othello daher als übertrieben und sogar monströs gewirkt – nicht als echter Mensch, sondern als lebendige Manifestation von Eifersucht und Sünde. Das bedeutet, dass Othellos Schwärze nicht nur im Hinblick auf seine physische Erscheinung verstanden werden kann. Es gibt auch keine offensichtlichen Verbindungen zu der langen Geschichte des Rassismus, die unsere heutige Kultur geprägt hat.

Die Frage nach Othellos Rasse hat in den letzten Jahrzehnten viel Aufmerksamkeit erregt. Moderne Kritiker haben das Stück im Kontext der zeitgenössischen Vorstellungen von Rasse und Rassismus untersucht und darauf hingewiesen, dass Othellos Gewalttätigkeit, Eifersucht und angebliche sexuelle Fähigkeiten (laut Jago und Roderigo) die zeitgenössischen Stereotypen über schwarze Männer verstärken. Problematisch ist auch die Tatsache, dass Othello bis Mitte des 20. Jahrhunderts von weißen Schauspielern wie Laurence Olivier gespielt wurde, die ihre Haut mit Make-up verdunkelten, eine Praxis, die an die zutiefst rassistische Verwendung von „blackface“ in Minstrel-Shows des 19. Als der schwarze Schauspieler Paul Robeson die Rolle in den 1930er Jahren in London spielte, waren die Zuschauer schockiert, dass ein schwarzer Mann eine weiße Frau auf der Bühne küsste. Doch Robeson ließ die Rolle in den 1940er Jahren am Broadway wieder aufleben, und seither wird Othello in großen Produktionen fast immer von einem schwarzen Schauspieler gespielt. (In Produktionen der Oper Otello hingegen sind in jüngerer Zeit weiße Sänger mit dunklem Make-up zu sehen.) Im Jahr 1997 spielte der weiße Schauspieler Patrick Stewart den Othello in einer ansonsten rein schwarzen Inszenierung; in einer neueren Inszenierung spielten schwarze Schauspieler sowohl Othello als auch Jago. Auch wenn die ursprüngliche Bedeutung von Othellos Schwarzsein heute nicht mehr klar ist, eignet sich das Stück aufgrund seiner provokanten und zeitlosen Thematik für unzählige Interpretationen, da sich die Vorstellungen von rassischer Identität weiter entwickeln.

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